„Und marschierte hinauf nach dem Norden …“

(aus dem ‚Kanonensong‚ von Brecht/Weill, Dreigroschenoper)

100 Kilometer allein nonstop zu Fuß am 11. -> 12. Juni 2020 – und hier geht das Abenteuer LOS:

Osnabrück entließ mich mit milder Abendsonne nordwärts in die Pferdekoppeln des Umlandes am kleinen Fluss Nette. Für diese landschaftlich sehr reizvolle Region nahm ich mir wenig Zeit zum Betrachten; die vielen Findlinge, Hünengräber und neolithischen Oestringer Steine kannte ich schon von vorangegangenen Besuchen. Nun galt es, im noch flachen Gelände möglichst viel Strecke zu machen. Vom Wetter her waren es ideale Voraussetzungen.

„Ja, mach nur einen Plan!“

aus dem ‚Lied von der Unzulänglichkeit des menschlichen Strebens‘ Brecht/Weill

Den Plan gab es natürlich. Und er war aus meiner Sicht auch umfassend durchdacht. Doch dass es sich schon nach gut 20 km nahe dem Ameisenlehrpfad für mich konkret so darstellte, als ob diese Krabbeltiere meinen Darm erobert hätten – das gehörte definitiv nicht zum Vorhaben. Ankommen schien in weite Ferne gerückt, wenn ich schon jetzt mit erheblichen Darmkoliken zu kämpfen hatte. Es sah nicht gut aus: „Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan. Gehn tun sie beide nicht.“ Doch es dauerte über eine Stunde, bis ich mich in finsterer Nacht mitten im Wald diarrhöemäßig erleichtern konnte. Natürlich alles nach fachlich relevanten Gesichtspunkten. Und jetzt, sollte nach nur einem Viertel der Strecke die Tour beendet sein? 😳 🤔

Geschwächt, aber immerhin auf zwei Beinen und mit der gleichen Anzahl von Walkingstöcken an den Händen gestützt ging es anschließend in finsterster Nacht durch eine Blair Witch Project Gegend: Teufels Backofen, Teufels Backtrog und der Süntelstein:

(„Bei Osnabrück liegt ein uralter Stein, dreizehn Fuß aus der Erde ragend, von dem die Bauern sagen, der Teufel hätte ihn durch die Luft geführt und fallen lassen. Sie zeigen auch die Stelle daran, in welcher die Kette gesessen, woran er ihn gehalten, nennen ihn den Süntelstein.“[5])

Und das weit und breit allein, nur mit Komoot in der Tasche. Wobei sich diese App gelegentlich den Spaß machte, mich direkt in pieksige Nadelbaumzweige zu leiten. Die Nacht war lang (trotz Juni) und vor allem kurz vor dem Morgengrauen saukalt. Wie lange könnte das überhaupt noch so weitergehen? Gefühlte Perspektive: nur noch kurze Zeit.

„Viva la vida“ – es lebe das Leben!

Doch dann – in unerwartet starker Lautstärke setzten die Vögel mit ihrem Gezwitscher ein, die Dunkelheit wich. Margeriten strahlten am Wegrand, aufgescheuchte Rehe überquerten die Felder. Ein ausgeprägter Tiefpunkt war überwunden.

So kam ich auf die Idee, bereits jetzt schon zum ersten Mal meine Motivationsplaylist anzuhören – die eigentlich für später gedacht war. Beim Abspielen bildete sich bei mir die Einsicht, dass es doch ziemlich blöd wäre, könnte ich mir zum Beispiel Coldplay nicht unter dem Kaiser Wilhelm Denkmal anhören. Viva la vida! Es lebe das Leben, mit neuem Schwung!

„Walk on, walk on, with hope in your heart“

You’ll Never Walk Alone – Songtext – Gerry and the Pacemakers

Bis zum höchsten Punkt des Wiehengebirges auf dem Heidbrink (nur 320 m) war es noch weit, aber mit dem neuen Elan konnte auch der Vormittag mit seiner zunehmenden Wärme in Angriff genommen werden!

„Ich werde einfach immer alles geben.“

Bushido feat karel gott für immer jung official video

Die verpflegungsmäßigen Vorausetzungen ‚einfach immer alles zu geben‘ waren vorhanden: Morgens um 7:30 Uhr wurde bei km 54 ein Superfoodmüsli serviert (Großen Dank an Frau M.!!!), mittags vor dem Aufstieg zum höchsten Punkt gab es Vollkorncurryreis mit Huhn und frischer Ananas aus dem Rucksack.

„I feel so broke up, I JUST WANNA GO HOME“

Dann kommen immer wieder die Momente, an denen man sich nur noch das ENDLICH ANKOMMEN wünscht. Es kommt die 60er, 70er, 80er Marke. Natürlich habe ich schon weit mehr als die Hälfte der Strecke absolviert, ‚umkehren lohnt jetzt nicht mehr‚. Aber es tauchen die Informationen im Hinterkopf auf, dass beim 100er die Finisherquote bei 25 – 30 % liegt. Die meisten Teilnehmer geben bei 80 auf. Schnell noch ein Quetschi von Dextro (Concentrated carbohydrates) mit schrecklichem Geschmack. Ein Glück, dass ich im freundlichen Café Waldkristall meine Trinkblase kostenlos auffüllen durfte! Ankommen, durchatmen, genießen dauerten für mich heute hier leider nur einige Minuten – aber wir kommen wieder! Empfehlung, keine bezahlte Werbung.

Halluzinationen

Nachdem die Sonne am höchsten stand, bevölkerten Figuren und Wesen den Wald. Da – stand ganz deutlich eine blonde Frau mit langem Haar, brauner Hose und brauner Jacke am Wegesrand. Dann eine Riesenkatze unter einem Baum. Hinter der nächsten Ecke saß doch tatsächlich ein Bettler. Schließlich noch so etwas gnomenmäßiges. – – – Doch sie bewegten sich alle nicht, auch das Zusammenkneifen der Augen half nicht. Weiter hinten noch eine Telefonzelle???

Aber jeweils beim Näherkommen entpuppten sich alle Erscheinungen als Umrisse von Wurzeln, abgebrochenen Baumstümpfen oder Astkonstruktionen. Ob der Schlafentzug eine Schärfung der visuellen Wahrnehmung dahin befördert, nicht Realitäten, sondern Projektionen zu sehen?

Dann könnte es doch endlich zu Ende sein, km 98. Da fällt mir die Geschichte ein von dem Teilnehmer, der sich just bei dieser Marke an den Straßenrand setzte, zu Heulen anfing und sich weigerte, die letzten 2000m zu absolvieren. Kopfsache. Bei mir gab es keinen Bordstein, nur noch eine Steigung, wieder hoch und nochmal aufwärts. Es schien keinen Abschluss zu finden. Und irgendwann, genau beim Kaiser war es soweit:

This is the best trip; I’ve ever been on

Beach Boys 2016

Was bleibt noch, wenn ich tatsächlich angekommen bin? Frau M. hatte wieder für Infrastruktur gesorgt. DANKE! Dehnen und Triumph! Und das GLÜCK kam hinterher!

… Die Kapitelüberschriften in „Anführungszeichen“ geben Zeilen aus der Motivationsplaylist wieder. Sie haben mir sehr weitergeholfen. …

xxx Eigentlich habe ich diesen Beitrag für mich selbst geschrieben. Aber wenn du dich bis hierhin durchgelesen hast – – – kannst du auch einen Kommentar hier lassen. Ich würde mich freuen! xxx


26 Kommentare

Karl-Lutz · 15. Juni 2020 um 18:01

Mensch,Uwe,das hätte ich ehrlich gesagt niemand von uns zugetraut!
Ich bin vor drei Jahren etwa 42 km in 10 Stunden von uns zuhause zum Herzogenhorn gelaufen und hab das als die ultimative Grenze für mich erklärt.Oder die 40 km Landstrasse Richtung Venedig nachts und die nächste Nacht noch mal in der Poebene(sic!)
Aber 100 km am Stück,nein,das kann ich mir jetzt immer noch nicht vorstellen,allerhöchster Respekt.Riesengratulisation!

    Uwe Möller-Lömke · 16. Juni 2020 um 14:32

    @ Karl-Lutz: Ich war mir nicht sicher, ob ich es mir zutrauen kann. Dann habe ich es ausprobiert – und geschafft. Und Dank, lieber Karl-Lutz, für die schöne Wortschöpfung ‚Gratulisation‘! Du weißt, ich bin auch für sprachliche Kreationen immer sehr zuhaben.

Stephan M · 15. Juni 2020 um 20:56

Hallo Uwe, Wahnsinnsleistung was Du da gewandert bist. Ich kann mir das kaum vorstellen, schon alleine wie der Kalorienverbrauch ausgeglichen wird. Und weiss auch nach meiner 21 km Herrmannsweg Wanderung von Bad Iburg nach Tecklenburg vom verganenen Freitag schon , dass das für mich nicht in Frage kommen kann. Großes Kompliment, weiter so, nicht übertreiben damit die Halluzis nicht zu wild werden und bitte schön weiterschreiben…. Liebe Grüße Stephan

Carsten H · 15. Juni 2020 um 21:14

Das ist eine wahnsinnsgute Leistung die du da absolviert hast👍👍

Matthias · 15. Juni 2020 um 21:46

Mensch Papa, einfach stark!! Mittags noch ein „Auftritt“ und Abends gestartet! Riesen Leistung!!

Elly · 15. Juni 2020 um 23:29

Respekt!! Mein Sohn hat es mit viel Training auch versucht, in Berlin, hat es nicht geschafft- seine Kollegin hat es geschafft und auch sehr halluziniert und eine ganze Zeit gebraucht wieder zu sich zu kommen! Respekt!! Tolle Leistung- ich bin keine Sportkanone- meine Höchstleistung und mein Limit ist 8 Stunden Ballons modellieren – im stehen und dann konnte ich danach auch nur noch schwer laufen und meinte nie wieder meine Daumen bewegen zu können- und irgendwie geht es dann doch wieder -irgendwann 😁
👍

Addi · 16. Juni 2020 um 0:27

Mann Uwe, das ist ja unglaublich! Herzlichen Glückwunsch zu dieser Leistung! Da kann ich gar nicht mitreden, da bleibt mir einfach nur: Respekt!
Ich hoffe, es klappt mit unserem Treffen im Dezember! Wenn du dann auch größere Strecken gehst, werd ich dich vorher und/oder hinterher gerne bekochen 🙂

Bernhard Luksch · 16. Juni 2020 um 14:07

Glückwunsch mein lieber Uwe. Tolle Leistung 👍. Ich bin nach 25 Kilometern bereits immer völlig platt. Das Problem mit Komoot hatte ich am Donnerstag auch: Wege, die eigentlich keine waren 😖. Cafe Waldkristall ist sehr zu empfehlen. Habe dort auch schon mal gezaubert 🎩. Auf jeden Fall ein sehr schöner Bericht.

Uwe Möller-Lömke · 16. Juni 2020 um 14:41

@ Stephan: Die Kalorien kommen schon wieder drauf. Nur von den Halluzis hatte ich bei den vorbereitenden Recherchen nirgendwo etwas gelesen.

Uwe Möller-Lömke · 16. Juni 2020 um 14:46

@ Carsten: Ich hatte deutlich das Gefühl ‚You never walk alone!‘. Es haben mich einige gedanklich unterstützend begleitet und ohne die Infrastruktur von Frau M. hätte es sowieso nicht geklappt. Großes Dankeschön!

Uwe Möller-Lömke · 16. Juni 2020 um 14:49

@ Matthias: Die Zeit zwischen ‚Auftritt‘ und Start war fast am aufregendsten. Danach lief es.

Uwe Möller-Lömke · 16. Juni 2020 um 14:52

@ Elly: An 8 Stunden Ballon modellieren möchte ich mich nicht versuchen.

Uwe Möller-Lömke · 16. Juni 2020 um 14:53

@ Addi: Wenn irgend möglich, werde ich dieses Angebot für den Dezember annehmen. Und hier berichten!

Uwe Möller-Lömke · 16. Juni 2020 um 14:57

@ Bernhard: Am 01. April machte das geschlossene ‚Waldkristall‘ einen schrecklich verlassenen Eindruck. Schön, dass so ein angenehmer Ort wieder belebt ist.

Katrin F. · 16. Juni 2020 um 21:30

Also nochmal: Wahnsinn!!! Für mich ist das unvorstellbar, und ich bewundere Dich rückhaltlos! Aber Du solltest das vielleicht nicht bis ins Unendliche steigern…. Bitte pass auf Dich auf!!!

Hofmann Dieter · 16. Juni 2020 um 23:14

Marlis sagt: Uwe ist 100 km gelaufen.
Ich: Geht nicht, so lange kann man nicht schnaufen
Ist bestimmt von den Wittekinds die Addition,
Zusammenfassend als Illustration
Der gewaltigen Strecke / Und dann entdecke / Ich später / Es waren wirklich 100 Kilometer
Am Stück / Welch ein Glück / Wir stoßen gerade auf Dich an / Das ist ne Marke, Mann oh Mann! Viele bewundernde Grüße

Uwe Möller-Lömke · 16. Juni 2020 um 23:21

@ Katrin: Magische Grenze 100/24 geschafft! Weitere Steigerungen sind nicht geplant.

Uwe Möller-Lömke · 17. Juni 2020 um 0:07

@ Dieter: Was für ein Gedicht! / Das schaffe ich nicht! / Gern sage ich: Prost! / In unsrem Alter kein Rost. / Dankesgrüße!

Otmar Hedwig · 18. Juni 2020 um 5:58

Unglaubliche Leistung, lieber Uwe! Da bleibt mir echt die Spucke weg! Was kommt als Nächstes? 🙂

    Uwe Möller-Lömke · 18. Juni 2020 um 15:50

    Danke, lieber Otmar! Jetzt ist erst einmal ‚kleine Brötchen backen‘ angesagt. Kein Wanderurlaub, Mithilfe auf der Baustelle des Sohnes.

Hilla · 18. Juni 2020 um 20:40

Hallo Uwe,
herzlichen Glückwünsch und Hut ab zu dieser Leistung !!!
Wie hast du das nur geschafft??
Wie lange vorher hast du dich damit beschäftigt??
Und hast du jetzt Entzugserscheinungen??
Respekt, Respekt!!!!
Liebe Grüße aus dem Stevertal

Uwe Möller-Lömke · 18. Juni 2020 um 21:10

Liebe Hilla, Danke! Du hast zwei wichtige Punkte benannt: Seit Ende Februar (60km in HH) hatte ich den Eindruck ‚Da geht noch mehr‘. Seitdem war ich dran. Und jetzt? Doch, doch, Baustelle und Enkelkinder – das ist super!

Sigrid L. · 19. Juni 2020 um 14:00

Hallo Uwe, 

Wow, tolle Leistung und das bei anfänglichem breakdown! 

Kann man mal sehen wie fit ein „Rentner“ sein kann. Cool! Weiter so und viel Spass bei deinen nächsten Herausforderungen! Viele Grüße! Sigrid 

Uwe Möller-Lömke · 19. Juni 2020 um 17:54

Danke, Sigrid! Und das alles ohne Muckibude, nur durch Bewegung in der freien Natur. Weiter geht’s!

Julia L. · 24. Juni 2020 um 22:09

Wow! Uwe, das ist ja der Hammer! Das hört sich nach Grenzerfahrung an! Hut ab!
Ich kann mich noch an einen 100 km Marsch erinnern, den ich vor ca 15 Jahren teilweise begleitet habe als Mitarbeiterin in einer erlebnispädagogischen Heimgruppe im Raphaelshaus in Dormagen. Sozusagen als Pädagogische Begleitung der SChützlinge die den Lauf gegangen sind. Es gab wohl immer wieder Posten zum Essen, Trinken oder aufgeben ;-)! Meine Schützlinge haben bei km 52 aufgegeben und ich war heilfroh! Ich weiß noch, dass ich die nächsten 2 Tage einen Muskelkater und körperliche Beschwerden hatte, wie noch nie vorher… konnte nicht mehr gehen ohne SChmerzen…
Ich glaube bei dem beschriebenen Lauf sind auch nur 2 Jugendliche ins Ziel gekommen! Der eine davon joggend…. ich war damals ganz schön beeindruckt!
Jetzt beeindruckt mich deine Leistung!!! Gut gemacht!
Liebe Grüße

Uwe Möller-Lömke · 27. Juni 2020 um 21:54

Danke, Julia! Wenn man eine solche Unternehmumg startet, sollte man schon ein bisschen eingelaufen sein. Trotzdem gibt es auch dann immer wieder Überraschungen!

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