Es ist kalt und dunkel am Morgen nach dem Nikolaustag. Warum stehe ich dann um 5:30 Uhr auf? Um mit einem Abstecher zum Freiburg Hbf drei Laugenbrezeln mit Butter zu erstehen und rechtzeitig eine Stunde vor dem Start bei dem Wanderevent einzuchecken. Bereits in der Straßenbahn erste Mitwanderer: Lockere Unterhaltung über die individuelle Aufregung und Anspannung. Diese löst sich ganz spontan beim Öffnen der Straßenbahntüren an unserer Haltestelle: Laute Musik dröhnt durch den frühen Morgen vom Startbereich herüber. VIVA LA VIDA! Coldplay! Whow! Was für ein Motto! Also, Startpaket abholen und Bändchen um das Handgelenk . Dann die Frage: Klo oder nicht Klo? Doch, besser! Neue Erfahrung: Im Dunkeln auf dem Dixi Klo, aber mit Stirnlampe. Auch das Fernsehen ist dabei (natürlich nicht im Klo!) und filmt die erste Startgruppe, noch im Dunkeln.

Start MegaMarsch, Nacht und Dunkel, Start,

Als es für mich um 8:00 Uhr los geht, ist es schon hell. Der Countdown geschieht wieder mit lauter Musik: WE WILL ROCK YOU! Yesss!!!

Jetzt gilt es, aus dem Startgedränge herauszukommen und mit dem eigenen Tempo den Flow zu finden. Lockere Unterhaltungen mit den Nebenwanderern sind hierbei hilfreich. Vor dem ersten Kaiserstühler Weinort grüßen übermannshohe Kreuze am Wegesrand. Diese werden uns auf der ganzen Strecke begleiten. Sie sind Ausdruck des Protestes der Winzer gegen das Volksbegehren Artenschutz ‚Rettet die Bienen‘. So gehen wir mit einem flotten Tempo von knapp über 9 Minuten pro Kilometer auf die erste Verpflegungsstation zu. Kurz davor gibt es bereits die ersten Notwendigkeiten der Nachsorge – allerdings nicht bei uns.

Weinfass, Schuhe wechseln,

VPS = Verpflegungsstation. Das macht neugierig, was es hier an Köstlichkeiten gibt. Das wollen auch noch viele andere MitwandererInnen wissen – – – und so haben wir erst einmal eine Wartezeit von 15 Minuten. Von der Wand in der Scheune grüßt das Riesenporträt der badischen Weinkönigin von 201?. Toastbrote mit Käsescheiben oder Marmelade sind wenig attraktiv für mich, Cabanossi kombiniert mit Haribo-Colorado-Weingummi schon eher. Abschließend noch schnell einen Powertrank mit Chiasamen einstecken und weiter. Jetzt geht es tatsächlich hinauf in die Weinberge und es bietet sich ein grandioses Panorama.

Weinberge, unterwegs, Reben,

Aus der üblichen Funktionskleidung der TeilnehmerInnen ragen zwei Schwarzwälder Wanderburschen heraus.

Wanderburschen, weitwandern, Tracht,

Die Streckenführung leitet uns durch jede Menge wohlbekannte Weinorte am Kaiserstuhl und an Weingütern mit Probierstuben vorbei. Leider vorbei. Da hat es sich eine sechsköpfige Wandergruppe bei Kilometer 23 besser eingerichtet: Gemeinsam leeren sie eine Flasche Sekt, nicht aus Plastikgefäßen, sondern stilvoll aus richtigen Gläsern. Prost! Weiter vorbei an Merdingen, Ihringen (nennt sich auch (W)ärmster Ort Deutschlands), Achkarren. Alles klangvolle Namen für Weinconnoisseurs, aber ausgerechnet hier hat Krombacher seine alkoholfreie Trinkstation aufgeschlagen. Auch diese wird rasch passiert, denn nun steigt der Weg deutlich weiter die Weinberge hinauf. Vor mir ein Kollege, ausgerüstet wie für zwei Monate durch die Wildnis. Auf meine Nachfrage berichtete er von einem Rucksackgewicht von 32 (!) Kilo, Zelt und ‚Küche‘ natürlich dabei. 😳

Riesenrucksack, Weinberge,

Zur nächsten VPS muss ich die gewonnen Höhenmeter wieder hinunter. Hier melden sich zunehmend meine kleinen Zehen, die beim abwärts Gehen von innen an den Schuh stoßen. Und das doch so fortschreitend, dass ich mir die Frage stelle, ob ich die Unternehmung überhaupt fortsetzen kann. Auch Mitwanderer sind bewegungsmäßig deutlich am Herumeiern. Mit ambivalenten Gefühlen erreiche ich die VPS, wo sich manche schon von der Tour verabschieden mit der Aussage: „Nächstes mal besser vorbereiten!“ Aber immerhin gibt es trotzdem eine Anerkennungsurkunde für die geleisteten 30 km. Ich kann meine Trinkflaschen auffüllen mit heißem Wasser + eine halbe Magnesiumtablette. Ideale Trinkverpflegung für unterwegs! Dann sind die Füße dran: Beide kleinen Zehen werden mit Blasenpflaster gepolstert. Mühsam ist es, wieder in die Schuhe zu schlüpfen. Aber – oh Wunder: Keine Probleme sind mehr zu spüren! Dazu kommt die Erkentnis, doch deutlich mehr als die Hälfte der Strecke bereits geschafft zu haben. Das zusammen wirkt wie doppeltes Doping! Beim Durchgang durch Vogtsburg i. K. halte ich Ausschau, ob irgendwo Franz Kellers ‚Schwarzer Adler‘ zu sehen ist. Dort eine kulinarische Mittagspause einzulegen, das wäre doch etwas! Stattdessen bleibt nur der Blick auf ein VDP-Verkostungsangebot. Auch das muss leider ungenutzt seitlich liegengelassen werden.

Probierstube, Salwey, VDP Wein,

Bevor Franz Kellers kulinarische Verlockung in Sichtweite kommt, schlägt das Höhenprofil zu: Mit bis zu 22% Steigung geht es rechts aufwärts in die Weinberge, der Kaiserstuhl will bezwungen werden!

Höhenprofil,
Höhenprofil!

Mit den erarbeiteten Körnchen in den Beinen kein Problem, zudem gibt der Stockeinsatz mächtig Schub! Der Blick zurück erstreckt sich über den Rhein bis zu den Vogesen.

Kaiserstuhl, Rheinebene, Vogtsburg, Vogesen,

Nach den Reben noch durch den Wald – und bald schon ist der höchste Punkt der Strecke erreicht, der Neunlindenturm auf dem Totenkopf. „Seinen Namen soll der Berg von den dort durchgeführten Hinrichtungen haben …“‘(Wiki)

Neunlindenturm, Kaiserstuhl, Totenkopf, höchster Punkt,

Auch wenn die Aussicht vom Turm ein beeindruckendes 360° Panorama bietet, ist nicht viel Zeit zum Verweilen. Die Sonne beginnt schon zu sinken und genau so steil wie der Aufstieg ist auch nun der Abstieg. Die letzte VPS hält ein breites Angebot vor: neben dem Üblichen auch frische Waffeln, Glühwein und Bratwürste. Wahrscheinlich als Trost für diejenigen, die hier Schluss machen. Ich versorge mich nur mit dem Notwendigsten (heißes Wasser und Magnesium) und dann weiter, weiter! Nachdem die Ebene wieder erreicht ist, kündigt sich ein fulminanter Sonnenuntergang an. Über dem Schwarzwald (Feldberg mit Schneeresten im Blick) stapelt sich ein himmelhohes Wolkengebirge. Angestrahlt von der untergehenden Sonne lässt es eine Vision von Himalaya über dem Mittelgebirge erscheinen! Und auch die Motivationen am Weg mehren sich.

40 Kilometer noch, durchhalten,

Jetzt finden sich auch Wegabschnittskollegen und Gesprächsgefährten von vorher wieder ein. Besonders intensiv ist der Austausch mit Jürgen, einem Tischler aus dem Ortenaukreis im urigsten Badisch-Alemannisch. Es wird dunkel, Stirnlampen werden eingeschaltet. Zum Abschluss folgt der ätzendste Streckenabschnitt: Kilometerlang zieht es sich auf dem Damm der abwärts fließenden Dreisam. Da Beine und Kopf noch einiges hergeben, ziehen wir das Tempo an auf gut 10 Minuten pro Kilometer. Doch es will nicht enden, Jürgen habe ich schon irgendwo in der Dunkelheit verloren. Ich will nur noch ankommen! Da taucht in meinem Kopf eine Zeile von den Beach-Boys auf: „I wonna go home!“ DA ist es, mein Schlussmantra!

„Well I feel so broke up – let me go home – I wanna go hooooome!!!“

Nur noch ankommen! Die letzte halbe Stunde singe ich das laut vor mich hin und variiere auch den Text meinem Zustand entsprechend:

„Well it feels so good, cause – I am going hooooome!!!“

(Zu den Beach-Boys und einer späteren Entdeckung mehr in einem eigenen Beitrag.)

Ich kann schon sagen: ‚Sloop John B‘ hat mich ins Ziel getragen, es wurden noch einmal alle Segel gesetzt.

Ziel, ankommen, endlich,
Angekommen!

Medaille, finnisches Bier, Urkunde. Ich habe es geschafft, geschafft! Die Endorphinausschüttung setzt schlagartig ein und kann auch in der Erschöpfung deutlich wahrgenommen werden. Und: sie hält auch noch einige Tage an!

Strecke,
Das Bewusstsein, diese Herausforderung gemeistert zu haben, bleibt!
Still from movie,
Still from the Aftermovie

12 Kommentare

Matthias · 10. Dezember 2019 um 22:25

Schöner Bericht übrigens über die 52,5 km Wanderung online!! Soeben gelesen, die Emotionen kommen sehr schön rüber!
Respekt nochmal vor dieser Leistung!! 💪

Uwe Möller-Lömke · 11. Dezember 2019 um 10:03

Danke! Ich wundere mich immer noch selbst! Und die Wirkung von Dopamin, Serotonin, Noradrenalin, Endorphinen, Oxytocin und Phenethylamin hält noch an.

Otmar · 11. Dezember 2019 um 10:54

Toll beschrieben Deine Mega-Tour, Uwe. Du kannst stolz auf Dich sein. 52,5 km mit diesen Steigungen am Kaiserstuhl sind eine Leistung, um die ich Dich beneide :-). Gruß Otmar

Uwe Möller-Lömke · 11. Dezember 2019 um 15:30

Jeder nach seinen Möglichkeiten! Es war eine körperliche und mentale Herausforderung, der ich mich freiwillig gestellt habe, vorbereitet. Und ich freue mich sehr, dass alles so gut geklappt hat. Auch die äußeren Bedingungen und die Organisation war gut!

Hilla · 11. Dezember 2019 um 18:42

Superleistung!! Das Wandern ist ja Deine Lust, eben weil Du es ja freiwillig tust!
Doch Mega-Wandern – muss ich sagen – solltest Du nicht zu oft wagen!! GlG Hilla

    Uwe Möller-Lömke · 12. Dezember 2019 um 9:07

    Vielen Dank! Diese gereimten Zeilen wären auch ein Mantra für den Schlussspurt gewesen.

A.-B. L. · 11. Dezember 2019 um 20:53

Wow,wow,wow
Congratulation, what a great performance….
That`s our Uwe 🙂

    Uwe Möller-Lömke · 12. Dezember 2019 um 9:09

    Thanx a lot! ‚Performance, Performance …‘ that was also in my brain during the MegaMarsch.

Jutta · 15. Dezember 2019 um 17:59

Die Gegend um den schwarzen Adler haben wir im Oktober auch gemacht….aber mit dem Womo !!
Auf jeden Fall nicht zum letzten Mal!

Uwe Möller-Lömke · 15. Dezember 2019 um 19:12

Ich kann mir auch gut vorstellen, hier noch einmal in Ruhe zu Wandern und nicht zu ‚Marschieren‘: Die Anstiege sind kurz, die Aussichten fantastisch, die kulinarischen Angebote hervorragend und die VDP-Probierstuben nah!

Scherer Patricia · 16. Januar 2020 um 21:49

Der Kaiserstuhl hat es aber in sich. Respekt!!
Die Tour hast du sehr schön beschrieben👍
Tolle Leistung.
Glg Patricia

Emmello · 16. Januar 2020 um 23:19

Das, was auf den ersten Blick erschreckt, ist das nachträgliche Höhenprofil. Vor Ort war es aber kein Problem, vor allem bei Unterstützung durch die Walkingstöcke.

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